Amazons Grenzüberschreitung als Randnotiz

Seit Jahren lese ich in Studien zur Digitalisierung und höre in Strategie-Workshops zur Transformation der Branche angeregte Diskussionen über die Angst, dass die Googles, Apples und Amazons dieser Welt die Zukunft des Gesundheits- und Sozialwesens übernehmen, wenn es die Etablierten nicht selbst machen.

Das Machtpotenzial dieser Riesenkonzerne ist allen bewusst, die abstrakte Bedrohung omnipräsent, aber bis jetzt fehlte vielen die Phantasie, wie denn der konkrete Schritt aussieht, bei dem einer der Tech-Konzerne die Grenze des klassischen Geschäfts überschreitet. Von einer EKG-schreibenden Apple-Watch fühlte sich in Anbetracht des Digitalisierungsgrads des deutschen Gesundheitswesens kaum einer bedroht.

Phantasie ist nun nicht mehr notwendig. Mit der Übernahme von One Medical für umgerechnet
3,8 Mrd. € überschreitet Amazon eine Grenze und betritt (innovations- und technologieangereichert) den klassischen Markt der Gesundheitsversorgung (Amazon übernimmt One Medical – 1Life Healthcare Aktie steigt um 70 Prozent (handelsblatt.com).

Das Echo auf diese Nachricht, war von halbherziger Beunruhigung und teilweise optimistischer Hoffnung geprägt, etwa: „Die Patientinnen und Patienten hingegen können von einem Markteintritt nur profitieren.“ (Philipp Köbe im kma Entscheider Blog: kma Entscheider Blog: Amazon steigt in den ambulanten Sektor ein! – kma Online (kma-online.de) )

Ich bin kein Freund von Panikmache, aber m. E. ist die Wahrscheinlichkeit, dass „Big-Tech“ wesentliche Marktanteile im Gesundheitswesen (oder zumindest ihrer digitalen Sphäre) über die nächsten Jahre übernimmt und seine disruptive Innovationskraft entfaltet sehr hoch.

One Medical: Innovative Gesundheitsplattform, aber auch echte Leistungsversorgung

Das Prinzip der Plattform One Medical ist überzeugend und hat mehr Potenzial als einst eine kleine Internet-Plattform zum Verkauf von Büchern (namens amazon.com). Gegen eine Mitgliedsgebühr können Nutzer:innen rund um die Uhr virtuelle oder persönliche Arztbehandlungen in den Filialen über die Plattform buchen. Dabei setzt die Plattform, wie schon der Amazon-Marketplace und andere erfolgreiche Plattformen der letzten Jahre, auf Kooperationspartner: One Medical arbeitet aktuell mit über 8.000 Unternehmen zusammen.

Das ist an sich schon eine spannende Entwicklung. Aber One Medical ist nicht nur ein Plattform-Betreiber, der in der digitalen Welt Services anbietet, die den Akteuren der „echten“ Welt eine effizientere Versorgung der Patient:innen ermöglicht – One Medical betreibt selbst 182 Hausarzt-Filialen. Damit überschreitet Amazon eine weitere Grenze und ist nun unbestreitbar in den Markt des klassischen Gesundheitswesens eingetreten.

Was geschieht, wenn Amazon selbst Waren und Services anbietet, die über die eigene Plattform eigentlich von Kooperationspartnern angeboten werden, kann man in beeindruckender und beängstigender Weise bei den Produkten der Eigenmarken von Amazon (Bericht: Amazon übervorteilt mit Eigenmarken seine Marktplatz-Händler | heise online) oder dem eigenen Logistik-Anbieter in Deutschland (Online-Riese Amazon macht Post Konkurrenz (t-online.de)) sehen.

Amazon dringt immer tiefer ins Gesundheitswesen vor

Mit dem aktuellen Zukauf setzt Amazon seine Strategie fort, die auf eine „Neuerfindung“ des Gesundheitswesens setzt, wie es der Senior Vice President von Amazon Health Services nennt. Durch Zukäufe beispielsweise von PillPack (in 2018 – heute Amazon Pharmacy), den Aufbau umfassender Cloud-Lösungen mit AWS for Health (Nutzung durch Cerner, Philips, Dedalus u. a.) oder Lösungen im Bereich der Altenhilfe wie etwa Alexa Together (Notruf, Sturzerkennung, Remote Assist u. v. m.) wird der umfassende und langfristige Wirkungsanspruch klar.

Was hält Amazon noch vom deutschen Markt ab?

One Medical hat keine Niederlassungen in Deutschland und auch Alexa Together wird bisher nur in den USA angeboten. Realistisch erscheint aber mit Blick auf das wachsende Portfolio die fast unbegrenzten technischen Möglichkeiten des Unternehmens und das Vorgehen in anderen Unternehmensfeldern (Online-Handel, Cloud-Anbieter, sprachgesteuerte:r Assistent:in Alexa[AT1] , Logistik …), dass Amazon marktfähige Konzepte an diesen Piloten in den USA entwickelt und dann in rasanter Geschwindigkeit die Märkte anderer Länder und Kontinente erobert. Schutzwälle bietet das angeschlagene Gesundheitssystem in Deutschland kaum. Wer würde Amazon aufhalten, wenn diese mit viel Geld und einer wirklich sektorenübergreifenden Technologie in den deutschen Gesundheitsmarkt drängen? Europäischer Datenschutz, komplizierte Regulatorik und eine fragwürdige Finanzierung des Gesundheitswesens werden vielleicht den Eintritt verzögern, einen finalen Schutz stellen sie aber sicherlich nicht dar.

Nur gute Lösungen und das Lösen von alten Denkmustern können aktuelle Anbieter schützen

Was kann also getan werden, um Amazon aufzuhalten bzw. diesem Unternehmen und anderen Tech-Giganten nicht unser Gesundheitswesen zu überlassen? Im Stillen mag der ein oder andere mit Blick auf seine letzten Amazon-Bestellungen fragen: Warum eigentlich – läuft doch prima. Und hier drin liegt schon die vielschichtige Antwort.

Die Marktmacht und das aktuelle Wirken von Amazon in Deutschland liefern sowohl den Grund für einen notwendigen Schutz vor dem Technik-Riesen als auch die Faktoren, die es erlauben, gegen ihn erfolgreich zu bestehen.

Amazon ist so erfolgreich, weil es so bequem ist, weil es den Nutzer:innen Online-Handel oder auch Cloud-Computing kinderleicht gemacht hat und zusätzlich mitdenkt. Aber auch, weil Amazon häufig einer der ersten mit überzeugenden Angeboten in einem Bereich war oder schnell das größte Angebot hatte. Amazon profitiert letztendlich von den klassischen Plattformeffekten.

Möchte man am Markt gegen Amazon bestehen, muss man vor Amazon ein attraktiveres Angebot am Markt etablieren und sich auf seine Stärken besinnen. Das deutsche Gesundheitswesen, insbesondere die freigemeinnützigen und öffentlichen Träger, haben einen Vertrauensvorschuss. Jetzt heißt es schnell, attraktive, wirklich vernetzte digitale Lösungen anzubieten. Das schafft keiner allein. Die mit dem KHZG vorgesehenen Entwicklungen und die propagierte Vernetzung müssen konsequent umgesetzt werden. Nur wenn in wenigen Jahren Patient:innen mit einigen Klicks auf ihrem Smartphone ihre Gesundheitsversorgung organisieren können (Stichwort: Tiefenintegriertes, sektorenübergreifendes Patientenportal), haben die heutigen Akteure eine Chance, das Gesundheitswesen zu gestalten. In der Verantwortung sind vor allem die Anbieter der verschiedenen Krankenhaus-Systeme und IT-Dienstleister. Jede Lösung, die sich am historischen „Klein-Klein“ der Krankenhaus-Software-Welt orientiert und sich gegen die Anbindung anderer Systeme und einem standardisierten Daten- und Informationsaustausch verwehrt, öffnet die Tür ein Stück weiter für den unaufhaltsamen Markteintritt von Amazon und Co.

Ich wünsche uns ein Gesundheitswesen, auf dem Amazon keine sichtbare Rolle spielt, nicht (nur) aus Skepsis gegenüber Amazon, sondern weil ich mir zeitnah überzeugende (konkurrenzfähige) Lösungen für eine digitale und zukunftsfähige Gesundheitsversorgung in Deutschland wünsche.

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