200 Sekunden anstelle von 10.000 Jahren
Googles Quantencomputer löst ein Problem rund 1,5 Milliarden Mal schneller als ein klassischer Computer. Diese Nachricht von Scientific American lässt mein IT-Herz während des Sonntagskaffees für kurze Zeit höher schlagen. Gehören die Rechenprobleme, die mir beim Analysieren großer Datenmengen oder der Simulation komplexer Systeme begegnen endlich der Vergangenheit an?
Nein – nach kurzer Recherche muss ich feststellen, dass es sich bei dem gelösten Problem um die Simulation eines speziellen Quantenprozesses handelt. Mein Physik-LK liegt schon einige Jahre zurück, aber die Simulation von Quantenprozessen als Maßstab für die Rechenleistung von Quantencomputern zu nutzen, hört sich für mich an, als ob ein Autor sein eigenes Kreuzworträtsel löst und anschließend damit angibt wie schnell er es lösen kann.
Tatsächlich relativiert die einschlägige Berichterstattung die Sensationsmeldung. Die Forscher-Konkurrenz von IBM antwortete bald, dass sie ein ähnliches Problem mit einem klassischen Computer in unter drei Tagen lösen könne. Bei mir bleibt ein bekanntes Gefühl zurück: Fortschrittsernüchterung.
Schöne neue Welt
Unzählige Vorträge zur Digitalisierung werden momentan gehalten. Meistens werden Allgemeinplätze zu Effizienzsteigerungen, exponentiellen Wachstum, potenziellem Einsatz künstlicher Intelligenz oder notwendiger Transformation zur Entlastung des knappen Personals angepriesen. Ehrliche Analysen wieviel Kosten sinnvolle Digitalisierungsprozesse, vorschneller Aktionismus und schützend geworfene Nebelkerzen zum Entgehen des Digitalisierungsdrucks tatsächlich in Unternehmen verursachen gibt es wenig und lassen sich nur im Einzelfall durchführen. Die Vortragenden sind auf der sicheren Seite: Allgemeinplätze bleiben unangreifbar und schüren Hoffnung.
Beeindruckender sind da konkrete Pionierleistungen und digitale Tools für den praktischen Einsatz, die es erschreckend häufig schaffen, mich in Euphorie zu versetzen – leider ist dieses Gefühl selten von nachhaltiger Natur. Die Advokaten der neuen Zauberwelt, denen ich dabei auf den Leim gehe, agieren zumeist nach einem ähnlichen Muster.
Das Schema der Digitalisierungslüge
Das Schema mit dem „innovative digitale Lösungen“ angepriesen werden, erinnert mich an die Meldung über Googles Quantencomputer:
Zunächst wird ein komplexes Problem präsentiert, das scheinbar mit meinen Problemstellungen vergleichbar ist.
Über die vereinfachenden Annahmen und Nebenbedingungen wird charmant hinweggegangen,
und in erstaunlicher Geschwindigkeit löst der Protagonist das vorgestellte Problem, für das man „auf dem klassischen Wege“ Wochen (oder 10.000 Jahre) gebraucht hätte.
Es folgt die Phase der Begeisterung und das Träumen, was man mit dieser Lösung oder besser mit der Vorstellung von dieser Lösung alles machen könnte.
Die Euphorie wächst, kritische Nachfragen bezüglich der Übertragbarkeit auf die tatsächliche Situation werden geduldig mit dem Hinweis völliger Flexibilität der neuen Methode und geplanter Weiterentwicklungen ausgeräumt.
Mit Schwung ins Tal der Tränen
Wenn man jetzt nicht aufpasst, reitet man auf der Welle der Euphorie geradewegs ins Tal der Tränen. Natürlich hält man vor der neuen Softwareeinführungen Rücksprache mit dem Team, aber bei der Begeisterung und den Verbesserungsversprechen, die ja locker erfüllbar sein müssten, bleibt ihm gar nichts anderes übrig als den Vorschlägen zuzustimmen. „Wir müssen ja am Puls der Zeit bleiben.“ „Der digitale Wandel ist nicht aufzuhalten.“ – praktisch diese Allgemeinplätze!
Das böse Erwachen kommt mit der tatsächlichen Einführung einige Zeit später. Flexibel und anpassbar? Ja, aber nicht so einfach, wie gedacht und noch schlimmer – es stellt nicht einmal die Möglichkeiten bereit, die die Kollegen seit Jahren vom Altsystem gewohnt sind. Der Berater nennt diese Phase des Erkennens das „Tal der Tränen“ (oder Tal der Enttäuschung).
Die Generalentschuldigung wird mitgeliefert
Die Entscheidung wurde getroffen, das System ist umgestellt, die Kollegen wurden eigenhändig von der neuen Lösung überzeugt – zurück ist keine Option mehr. Aber der innere Widerstand wird auch nicht von den neuen (aber größtenteils überflüssigen) „Features“ gelöst – was jetzt wohl die Kollegen denken, deren Skepsis mit tollen Versprechen beiseite geräumt wurden?
Wer schon einmal einen Berater eines Softwareanbieters im Haus hatte, kennt wahrscheinlich die obenstehende Grafik (sogen. „Hype-Zyklus“) zum Verlauf der Einführung einer neuen Technologie (ähnlich auch für Veränderungsprozesse im Allgemeinen genutzt). Die Kurve wird häufig herangezogen, um die Einführung der Software im Unternehmen selbst zu beschreiben und veranschaulicht, dass wir bei der Entscheidung für die Veränderung zunächst euphorisiert sind, aber anschließend auf eine Vielzahl von Problemen *Entschuldigung* „Herausforderungen“ und Enttäuschungen treffen. Laut Analogieschluss bedarf es einem langfristigen Prozess, um den vollständigen Nutzen tatsächlich zu genießen. Wenn es nicht läuft wie versprochen geben Sie nicht Ihrem Berater die Schuld! Schuld ist das Tal der Tränen – da müssen Sie jetzt durch.
Das Plateau der Produktivität – ein Phantom?
Die Zielvorstellung ist das sogenannte „Plateau der Produktivität“. Wenn erstmal alle Beteiligten die Veränderung verinnerlicht haben, geschult wurden und die wichtigen, eigenen Erfahrungen gemacht haben, dann wird alles besser. So das Versprechen der Grafik, die ja augenscheinlich wahr sein muss, da sie schon das Tal der Tränen treffend vorausgesagt hat. Für den Berater ist das praktisch. Er begleitet die Systemeinführung, beantwortet die Fragenflut der ersten Tage, aber wenn er von der Enttäuschung der Kollegen und dem schlechten Gefühl mit der neuen Lösung erzählet bekommt, kann er simpel auf die ferne Zukunft verweisen. „Das ist ganz normal!“ „Sie müssen durchhalten!“ „In einem Jahr werden Sie mir danken!“
Zufriedenheitsgarantie? Fehlanzeige! Stattdessen das vage Versprechen, dass irgendwann alles besser wird. Was der Berater bis dahin macht ist ungewiss und Kritik am neuen System wird mit Blick auf die „sunk costs“ immer unangenehmer. Hoffentlich jagt man keinem Schatten nach.
Gute Probleme als Schlüssel zum Erfolg
Bei so viel Gerede über Tränen und Schatten könnte man den Eindruck gewinnen ich sei Technik-deprimiert. Das ist nicht der Fall. Ich bin nur vorsichtiger geworden: Acht von zehn Sensationsmeldungen aus der Technikwelt können mich nicht mehr begeistern. Andersherum habe ich auch schon einige Plateaus der Produktivität (unterschiedlicher Höhe) erleben dürfen. Was mir aber für die nächsten Jahren wirklich Motivation gibt noch viele Technik-Täler zu durchschreiten, sind die seltenen aber extrem beeindruckenden Fälle in denen – bildlich gesprochen – sich das Problem tatsächlich durch die Simulation eines Quantenprozess lösen ließ und ich einen Quantencomputer einsetzten konnte. Für dieses Digitalisierungsglück braucht es (leider) die richtigen Problemstellungen. Diese zu erkennen ist die Kunst der Zeit.
Für den (potenziellen) Anwender läuft es am Ende auf eine einfache Weisheit hinaus, wenn Ihnen jemand einen Hammer verkaufen möchte, prüfen Sie ob Sie einen Nagel in die Wand schlagen müssen. Ist dies nicht der Fall, lassen Sie die Finger davon, auch wenn der Hammer Bluetooth hat und sein Ziel mit Hilfe von künstlicher Intelligenz findet – Ihre Kollegen werden es Ihnen danken.